Oh-ha.
Da werd ich aber nun auch ein paar Takte sagen.
Selbstverständlich sind Nachrichten aus Gebieten mit extremer politischer Polarisierung stets höchst problematisch. Dass nun aber - wie in diesem Artikel - nun Rianovosti, Russia Today und Internet Blogs als glaubwürdiger hingestellt werden als die schwierige Arbeit von westlichen Reportern höchst unterschiedlicher Zeitungen wie Spiegel, The Guardian, etc. amüsiert mich. Auch wird verschwiegen, dass die Darstellung der u.a. von mir nun mal gewählten politischen Repräsentanten meines Volkes im russischen Fernsehen nun streckenweise wirklich völlig unakzeptabel ist.
Anders als etwa Jugoslawien im vom Westen letztlich gewonnenen Kalten Krieg, fand die Ukraine nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion keine stabile Position zwischen Russland und EU/NATO. Die Ukraine entwickelte sich ökonomisch praktisch null. Mit ihrem BIP/Kopf wären die heute selbst in Lateinamerika deutlich unter Durchschnitt.
Das schrie praktisch nach einer großen Änderung in der politischen Ausrichtung. Und tatsächlich folgte der Aufstand gegen Janukowitsch dem normalen Muster einer tief in der Gesellschaft verankerten Anstrengung um Wandel: Er ging von den jungen und gut ausgebildeten aus und fand einen breiten Widerhall in der Bevölkerung. Umfragen zeigen, dass sich eine Mehrheit der Ukrainer eine Ausrichtung nach Westen wünscht. Natürlich existieren im Osten des Landes Gebiete, in denen es möglicherweise andere Mehrheiten gibt. Aber so etwas liesse sich mit Abstimmungen regeln, nicht mit einem Bürgerkrieg.
Selbstverständlich handelt es sich bei den nun wirklich nicht selten ultranational-russisch eingestellten Kämpfern in der Ost-Ukraine um Separatisten. Möglicherweise existiert im Osten der Ukraine eine Mehrheit, die sich lieber im Verbund mit Russland sehen. Das liesse sich aber wie gesagt in Abstimmungen unter UN-Kontrolle regeln. Es gibt nun wirklich zahlreiche Hinweise darauf, dass Putin den Separatisten russisches Gebiet als Ruhe- und Ausbildungszone zur Verfügung stellt. Ausserdem liefert Russland mit höchster Wahrscheinlichkeit Waffen. Da haben sich ja schon einige der Separatisten-Führer verplappert.
Und zu jenem Hilfskonvoi meldeten Russische Medien am Freitag morgen, dass das Rote Kreuz an der Grenze übernehmen würde und davon wisse. Das Rote Kreuz verneinte aber dieses Einverständnis. In seinem vom strongman Putin inszenierten patriotischen Taumel respektiert die russische Propaganda-Maschinerie nicht einmal mehr das Rote Kreuz. Und Telepolis faselt von Genfer Konventionen.
Ins endgültig Groteske gleitet der Artikel spätestens dann ab, wenn er den Konflikt als Strafaktion des Westens gegen die Integrationsbemühungen zwischen den BRIC Staaten darstellt. Diese Herren Sozial- und Geisteswissenschaftler träumen in ihrer Ablehnung gegen Repräsentative Demokratie und Soziale Marktwirtschaft seit Jahren von einer neuen Spaltung der Welt. In der realen Welt hat aber "der Westen" überhaupt nix gegen solche Bemühungen. Brasilien, China und Indien unterhalten sehr enge Verbindungen mit den USA und der EU. Gleichzeitig wächst Handel und Investitionstätigkeit zwischen nicht westlichen Regionen wie Lateinamerika - Asien und Afrika - Asien überproportional. Pikanterweise btw stärker in den Ländern, deren Bevölkerung eben nicht auf die in den letzten Jahren verstärkt auftretende, tragik-komische anti-US Folklore anspringt, namentlich Kolumbien, Peru, Brasilien und Chile.
Nach Jahrhunderten von Kolonialismus/Imperialismus und der daraus folgenden Unterdrückung nicht-europäischer Urbevölkerungen leben wir nun in einer Zeit, in der Geschichte und Kultur dieser Völker stärker respektiert werden, lese ich nun bei Telepolis und ähnlichen Publikationen nichts über die Haltung der Krim-Tataren. Diese vom Russischen Kolonialreich unterworfene Minderheit scheint mit der russischen Übernahme der Krim alles andere als glücklich zu sein.
In der Auflösung der Sowjetunion gab es in einigen nicht-russischen Sowjetrepubliken in der Phase der Bildung der neuen Staaten insbesondere in Asien geradezu Jagdszenen auf russisch-stämmige Einwohner. Da kann man ein gewisses Bedürfnis zur Verteidigung der Landsleute schon verstehen. Nur ist das halt kein Alleinstellungsmerkmal für die Auflösung des Russischen Kolonialreichs. Ähnliche Phänomene waren halt in der Dekolonialisierung Afrikas in den 1950/60ern und Lateinamerikas in den 1810/20ern ebenfalls zu beobachten.
Weiteres was ich an der von Telepolis an Gläubige verbreitete Linie nicht verstehe ist, dass der oft zitierten geopolitischen Einkreisungsfurcht Russlands viel Platz eingeräumt wird, die Berechtigung der Furcht der baltischen Staaten und Polens vor einem aggressiver auftretenden Russland nicht einmal diskutiert wird. Während ich die Einkreisungsfurcht angesichts von einer die Ostsee, den Pazifik und das Nordpolarmeer einschliessenden Küstenlinie sowie Grenzen mit China, Iran, der Türkei, einigen europäischen Staaten, etc. nun wirklich nicht nachvollziehen kann, sind insbesondere die polnischen und baltischen Erfahrungen mit einer rücksichtslos auftretenden Hegemonialmacht 1939 bis 1941 sowie 1945 bis 1993 doch sehr real.
Des weiteren erscheint mir das gezeichnete Bild von Putin als Restaurator Russlands nüchtern betrachtet als sehr überoptimistisch. Die Zeit von 2002 bis 2014 war gekennzeichnet durch sehr hohe Rohstoffpreise. Dies bedeutete extrem günstige Bedingungen für Länder, die dort halt ihren komparativen Vorteil besitzen. Für eine nachhaltige Entwicklung sollte dies aber von industriellen und bildungspolitischen Fortschritten begleitet werden. Davon sehe ich aber in Russland sehr wenig. Industriell bleibt man nach wie vor weitgehend auf den für die vielen sozialen Probleme dieser Welt völlig nutzlosen Rüstungssektor beschränkt.
Aus der Lateinamerikanischen Geschichte sind strongmen, die zunächst eine positive Wirkung in Richtung nationaler Einigung und Reform entfalten, ein sehr häufig zu beobachtendes Phänomen. Porfirio Díaz und Juán Perón sind dafür nur zwei Beispiele unter vielen. Ab einen bestimmten Zeitpunkt wird der ihre lange Regierungszeit aber stets zu einer Blockade gegen weitere Entwicklungen. Die Verknöcherung wird durch das Wirken des selbstgeschaffenen Mythos sowie die zunehmende Korrumpierung durch die lange Phase der Machtausübung immer weiter verstärkt. Putin erinnert mich inzwischen sehr stark an dieses Muster. Erdogan übrigens ebenfalls.